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Langfristige Effekte des Schulungs- und Behandlungsprogramms "HyPOS" bei Typ-1-Diabetikern mit Hypoglykämieproblemen
Maier, Berthold (2015): Langfristige Effekte des Schulungs- und Behandlungsprogramms „HyPOS“ bei Typ-1-Diabetikern mit Hypoglykämieproblemen, Bamberg: opus.
Faculty/Chair:
Author:
Publisher Information:
Year of publication:
2015
Pages:
Supervisor:
Year of first publication:
2013
Language:
German
Remark:
Bamberg, Univ., Diss., 2014
Licence:
Abstract:
Stand der Forschung:
Nach übereinstimmenden Schätzungen mehrerer Untersuchungen sind etwa 25 % aller insulinbehandelten Menschen mit Diabetes vom Problem einer abgeschwächten oder fehlenden Hypoglykämiesymptomatik betroffen, das mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten schwerer Hypoglykämien einhergeht.
Diese Entwicklung beruht nach dem derzeitigen Forschungsstand auf zunehmenden Beeinträchtigungen der körpereigenen Gegenregulationsmechanismen, die sich nach vorliegenden Studiendaten im Mittel nach ca. 5 Jahren manifestieren und durch eine Reihe von Einflussfaktoren (z.B. zurückliegende Hypoglykämien, längere Diabetesdauer) moduliert werden.
In einer Vielzahl von Untersuchungen konnten die pathophysiologischen Mechanismen für die Entstehung von Hypoglykämieproblemen identifiziert werden, die unter dem Begriff des „Hypoglykämie-assoziierten autonomen Versagens (HAAF)“ zusammengefasst werden. Dazu zählen:
• der Verlust oder die Abschwächung der Glukagonsekretion
• die Absenkung der glykämischen Schwellen für die Blutglukoseregulation
• sowie die damit assoziierte Abschwächung der Hypoglykämiesymptomatik
Aktuelle Befunde machen einen zentralnervös vermittelten Adaptationsprozess der glykämischen Schwellen an niedrige Blutglukosewerte für die Entstehung von
Hypoglykämieproblemen verantwortlich. Demnach verstärken fortgesetzt auftretende Hypoglykämien das Absinken der glykämischen Schwellen für die Regulation der Blutglukose und des Auftretens von Hypoglykämiesymptomen, so dass sich ein „Teufelskreis“ aus Hypoglykämien und einer weiteren Downregulation der glykämischen Schwellen entwickelt.
Die Ergebnisse verschiedener Studien konnten zeigen, dass neben physiologischen Prozessen auch psychologische Faktoren die Wahrnehmung von Hypoglykämien determinieren. Als bedeutsame Mediatoren der Hypoglykämiewahrnehmung konnten individuelle Interozeptionsfähigkeiten (z.B. den Grad der Genauigkeit der Wahrnehmung körperinterner Stimuli), der Grad der Konzentration auf Körpervorgänge, das Wissen über das Erscheinungsbild von Hypoglykämiesymptomen sowie Erwartungshaltungen identifiziert werden. Darüber hinaus sind weitere psychologische Faktoren an Entscheidungsprozessen sowie an der Ausführung der Behandlung einer akuten Hypoglykämie beteiligt (z.B. subjektive Risikobewertungen, zurückliegende Behandlungserfahrungen).
Übereinstimmend konnten verschiedene Studien Subgruppen von Typ-1-Diabetikern identifizieren, die in besonderem Maße durch schwere Hypoglykämien gefährdet sind. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass das Hypoglykämierisiko von vielen Menschen mit Typ-1-Diabetes als bedeutsame emotionale Belastung und Beeinträchtigung des Wohlbefindens erlebt wird.
Fragestellungen:
Ziel der vorliegenden Untersuchungen war die Überprüfung von Langzeiteffekten des Schulungs- und Behandlungsprogramms „HyPOS“, das vom Forschungsinstitut der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM) entwickelt wurde. Zielgruppe der Intervention waren Typ-1-Diabetiker mit ausgeprägten Hypoglykämieproblemen. Diese waren definiert als wiederholtes Auftreten schwerer Unterzuckerungen (mit notwendiger Fremdhilfe) und / oder als hohes Ausmaß der emotionalen Belastung durch Unterzuckerungen und / oder als Vorhandensein ausgeprägter Probleme im Umgang mit Hypoglykämien. „HyPOS“ wurde als multimodales Schulungsprogramm konzipiert und basiert auf einem biopsychosozialen Modell der Bewältigung von Hypoglykämien. In den vorliegenden Untersuchungen wurden die Langzeiteffekte von „HyPOS“ im Rahmen einer kontrollierten Studie in der ambulanten fachärztlichen Versorgung (Beobachtungszeitraum: 31 Monate) erhoben. Darüber hinaus wurden die Effekte einer für die stationäre Schulung modifizierten Variante von „HyPOS“, an der Typ-1-Diabetiker mit besonders ausgeprägten Hypoglykämieproblemen teilnahmen, im Rahmen einer unkontrollierten prä-post-Erhebung (Beobachtungszeitraum: 18 Monate) überprüft.
Die vorliegende Arbeit beantwortet vier praxisrelevante Fragestellungen:
(1) Wie lassen sich ambulant behandelte Typ-1-Diabetiker mit Hypoglykämieproblemen bezüglich erkrankungs- und therapiebezogenen Variablen, diabetesbezogener Belastungen und der Befindlichkeit beschreiben?
(2) Welche Langzeiteffekte bezüglich der Inzidenz sehr schwerer Hypoglykämien können beim ambulanten Schulungs- und Behandlungsprogramm „HyPOS“ ermittelt werden?
(3) Mit welchen Variablen lässt sich eine Reduktion sehr schwerer Hypoglykämien im Beobachtungszeitraum prädizieren?
(4) Welche Langzeiteffekte hat ein für die Anwendung im stationären Setting modifiziertes Schulungsprogramm „HyPOS“ bei Patienten mit besonders ausgeprägten Hypoglykämieproblemen bezüglich der Inzidenz schwerer Hypoglykämien, der Qualität der Hypoglykämiewahrnehmung sowie des Ausmaßes diabetesbezogener Belastungen und des Wohlbefindens?
Methodik bei der Evaluation der ambulanten „HyPOS“-Schulung:
Die Evaluation des ambulanten Schulungsprogramms „HyPOS“ erfolgte mit Hilfe von drei Messungen, die in den 23 Studienzentren vor Beginn der Interventions- und Kontrollbedingung (t0), sechs Monate nach Abschluß der Interventionen (t1) sowie 31 Monate nach Beginn der Interventionen (t2) durchgeführt wurden. Insgesamt konnten 140 der 164 randomisierten Teilnehmer zu allen drei Messzeitpunkten untersucht werden.
Zur Eingangserhebung wurden personenbezogene Variablen (Körpergewicht, Körpergröße, Geschlecht, Alter, Schulbildung) sowie metabolische, erkrankungs- und therapiebezogene Charakteristika erhoben (HbA1c, Diabetesdauer, Insulinbedarf, Art der Insulintherapie, Anzahl von Insulininjektionen pro Tag, Verwendung von Analoginsulinen). Darüber hinaus wurde zur Baseline die Anzahl schwerer Hypoglykämien (notwendige Fremdhilfe ohne Bewusstseinsverlust) sowie die Anzahl sehr schwerer Hypoglykämien (mit Bewußtlosigkeit und / oder Krampfanfällen, Glukagongabe oder Glukoseinfusion i.v.) in den zurückliegenden 12 Monaten erfragt. Weiterhin wurden zur Baseline-Erhebung das Ausmaß einer beeinträchtigten Hyoglykämiewahrnehmung mit Hilfe des Hypoglycaemia Awareness Questionaire (HAQ, Clarke et al., 1995) und die Selbstbeurteilung der Güte der Hypoglykämiewahrnehmung mit Hilfe einer visuellen Analogskala (VAS) erfasst. Zusätzlich beurteilten die Teilnehmer vor Beginn der Intervention das Ausmaß diabetesbezogener Belastungen mit Hilfe des PAID-Fragebogens (Problem Areas in Diabetes, Welch et al., 1997) sowie das Wohlbefinden mit Hilfe des WHO-5-Fragebogens (Bech et al., 1996). Jeweils zur 6-Monats-, wie auch zur 31-Monats-Katamnese wurden metabolische sowie therapiebezogene Variablen erhoben. Darüber hinaus wurden zu beiden Katamnesezeitpunkten die Häufigkeit zurückliegender schwerer bzw. sehr schwerer Hypoglykämien, das Ausmaß der Hypoglycaemia unawareness sowie die Selbsteinschätzung der Hypoglykämiewahrnehmung erfasst.
Die Stichprobencharakteristika wurden mit geeigneten Parametern der deskriptiven Statistik beschrieben. Bei der interferenzstatistischen Prüfung der Veränderung sehr schwerer Hypoglykämien sowie der Untersuchung von Veränderungen diabetesbezogener Belastungen und des Wohlbefindens wurden entsprechend der Skalen- und Verteilungsvoraussetzungen t-Tests, nonparametrische Mann-Whitney-U-Tests, der Pearson χ2-Test oder der Mantel-Haenszel-Test angewendet. Zur Ermittlung der Effekte des „HyPOS“-Schulungsprogramms wurde eine multivariate, schrittweise, logistische Regressionsanalyse durchgeführt, bei welcher das Auftreten mindestens einer sehr schweren Hypoglykämie im 31-monatigen Beobachtungszeitraum als Zielkriterium gewählt wurde. In drei Modellen wurden schrittweise die Variablen „HyPOS“ vs Kontrollbedingung“, Baseline-Charakteristika sowie Variablen der Diabetestherapie und Hypoglykämiewahrnehmung zum 6-Monats-Follow-up in das Regressionsmodell aufgenommen.
Methodik bei der Evaluation der stationären „HyPOS“-Schulung:
Die Untersuchung von Langzeiteffekten des stationären Schulungsprogramms „HyPOS“ erfolgte mit Hilfe einer unkontrollierten prä-post-Erhebung mit drei Messzeitpunkten in einem mittleren Beobachtungszeitraum von 18 Monaten: zu Beginn der Intervention (t0), sechs Monate nach Abschluß der Interventionen (t1) sowie im Mittel 18 Monate nach Beginn der Interventionen (t2).
Von den 58 Probanden, die aufgrund besonders ausgeprägter Hypoglykämieprobleme in die stationäre Behandlung in die Diabetes-Klinik Bad Mergentheim überwiesen wurden, konnten 55 Teilnehmer der „HyPOS“-Schulung in die Studie eingeschlossen werden. Die Eingangserhebung wurde in der Fachklinik durchgeführt, die Katamnesedaten beruhen auf Fragebogendaten (Selbstauskünften) der Probanden.
Bei den Teilnehmern wurden jeweils zur Eingangserhebung personenbezogene Variablen (Körpergewicht, Körpergröße, Geschlecht, Alter) sowie metabolische, erkrankungs- und therapiebezogene Charakteristika erhoben (HbA1c, Diabetesdauer, Insulinbedarf, Art der Insulintherapie, Anzahl von Insulininjektionen pro Tag, Verwendung von Analoginsulinen). Darüber hinaus wurde analog zur ambulanten Studie zur Baseline die Anzahl schwerer und sehr schwerer Hypoglykämien in den zurückliegenden 12 Monaten erfragt. Weiterhin wurde zur Baseline-Erhebung das Ausmaß einer beeinträchtigten Hyoglykämiewahrnehmung mit Hilfe des Hypoglycaemia Awareness Questionaire (HAQ, Clarke et al., 1995) bestimmt. Die im HAQ erfragten Merkmale „Blutglukoseschwelle zur Wahrnehmung von Symptomen“ sowie „Zuverlässigkeit der Hypoglykämiewahrnehmung“ wurden zusätzlich jeweils separat analysiert. Analog zur ambulanten Studie beschrieben die Teilnehmer die Güte der Hypoglykämiewahrnehmung mit Hilfe einer visuellen Analogskala (VAS). Zusätzlich beurteilten die Teilnehmer vor Beginn der Intervention das Ausmaß diabetesbezogener Belastungen mit Hilfe des PAID-Fragebogens sowie das Wohlbefinden mit Hilfe des WHO-5-Fragebogens. Jeweils zur 6-Monats-, wie auch zur 18-Monats-Katamnese wurden metabolische sowie therapiebezogene Variablen erhoben. Darüber hinaus wurden zu beiden Katamnesezeitpunkten die Häufigkeit zurückliegender schwerer bzw. sehr schwerer Hypoglykämien, das Ausmaß der Hypoglycaemia Unawareness, die Selbsteinschätzung der Hypoglykämiewahrnehmung, das Ausmaß diabetesbezogener Belastungen sowie das Wohlbefinden erfasst.
Bei der Untersuchung wurde aufgrund der limitierten Stichprobe eine deskriptive Auswertung der Daten vorgenommen. Bei Unterschiedsfragestellungen wurden t-Tests sowie nonparametrische Mann-Whitney-U-Tests verwendet.
Ergebnisse:
Die Teilnehmer der ambulanten „HyPOS“-Langzeitstudie beschrieben zum Zeitpunkt der Eingangsuntersuchung ca. 8-mal soviele schwere und nahezu 4-mal soviele sehr schwere Hypoglykämien im Vergleich zu Teilnehmern der DCCT-Studie (DCCT Research Group, 1997). Bemerkenswert erscheint die kulmulative Inzidenz schwerer Hypoglykämien in einer Subgruppe von Teilnehmern (mehr als 80 % der Episoden bei ca. 29 % der Probanden). Die daraus resultierenden Hypoglykämieprobleme gingen bei ca. 40 % der Probanden mit einem stark erhöhten Ausmaß diabetesbezogener Belastungen und / oder einem stark beeinträchtigten Wohlbefinden einher.
Sowohl im Zeitraum zwischen dem 6-Monats- und dem 31-Monats-Follow-up als auch im gesamten Beobachtungszeitraum von 31 Monaten konnte ein signifikant stärkerer Rückgang sehr schwerer Hypoglykämien im Vergleich zur Kontrollgruppe ermittelt werden. Aufgrund der Vergleichbarkeit der glykämischen Kontrolle sowie therapiebezogener Variablen in der Interventions- und Kontrollgruppe kann die signifikant stärkere Reduktion sehr schwerer hypoglykämischer Ereignisse als Effekt des Schulungsprogramms „HyPOS“ bewertet werden.
Durch die Teilnahme am Schulungsprogramm „HyPOS“ konnte das relative Risiko für das Auftreten mindestens einer schweren Hypoglykämie um 54 % gesenkt werden. Der Interventionseffekt war auch nach Kontrolle von probanden-, therapie- und hypoglykämiebezogenen Eingangscharakteristika nachweisbar. Nach den Ergebnissen der schrittweisen Regressionsanalyse läßt sich die Absenkung des Hypoglykämierisikos möglicherweise auf eine interventionsbedingte Reduktion der Hypoglycaemia unawareness zurückführen.
Die langfristige Effektivität des Schulungsprogramms „HyPOS“ konnte auch bei Patienten mit besonders ausgeprägten Hypoglykämieproblemen im Rahmen eines stationären „HyPOS“-Trainings in mehrfacher Hinsicht belegt werden. Bei den Teilnehmern der stationären „HyPOS“-Schulung konnte im 18-monatigen Beobachtungszeitraum eine signifikante und klinisch bedeutsame Reduktion schwerer bzw. sehr schwerer Hypoglykämien festgestellt werden. Nach 18 Monaten waren die Inzidenzraten schwerer bzw. sehr schwerer Hypoglykämien mit den Ereignisraten der ambulanten Probandenstichprobe zur Eingangsuntersuchung vergleichbar.
Innerhalb des Beobachtungszeitraums konnte eine signifikante Abnahme der Hypoglycaemia unawareness sowie eine signifikante Anhebung der glykämischen Schwellen für die Entdeckung erster Hypoglykämiesymptome ermittelt werden. Entsprechend beschrieben die Probanden der stationären „HyPOS“-Schulung eine gesteigerte Zuverlässigkeit bei der Interozeption von Hypoglykämiesymptomen.
Trotz der vergleichbaren mittleren Blutglukoseeinstellung zu den drei Messzeitpunkten weisen die Daten auf eine physiologischere Insulinsubstitution im poststationären Beobachtungszeitraum hin. Die vermehrte Verwendung von Analoginsulinen sowie der Insulinpumpe könnte neben dem „HyPOS“-Training zur einer Reduktion schwerer Hypoglykämien und zu einer Abschwächung des Hypoglykämie-assoziierten Versagens (HAAF) beigetragen haben.
Sorgen um Hypoglykämien erwiesen sich als die stärkste diabetesbezogene Belastung bei den Teilnehmern der stationären „HyPOS“-Schulung. Im Beobachtungszeitraum von 18 Monaten konnte keine signifikante Reduktion der diabetesbezogenen Gesamtbelastung und des Wohlbefindens festgestellt werden. Bemerkenswert erscheint jedoch die signifikante Abnahme von Sorgen bezüglich Hypoglykämien, - ein Befund, der die spezifische Effektivität und den Nutzen des Schulungsprogramms „HyPOS“ im Hinblick auf die Erhaltung der Lebensqualität unterstreicht.
Schlussfolgerungen:
„HyPOS“ ist das erste Schulungs- und Behandlungsprogramm im deutschsprachigen Raum, das auf eine Verbesserung sowohl physiologischer als auch psychologischer Determinanten von Hypoglykämieproblemen abzielt. „HyPOS“ hat sich sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Versorgung von Typ-1-Diabetikern mit
Hypoglykämieproblemen als langfristig effektive Intervention erwiesen. Die Wirksamkeit der „HyPOS“-Schulung zeigte sich in einer langfristigen und klinisch bedeutsamen Reduktion des Risikos für schwere und sehr schwere Hypoglykämien sowie in einer langfristigen Verbesserung der Hypoglykämiewahrnehmung. Insbesondere bei stationär behandelten Patienten mit besonders ausgeprägten Hypoglykämieproblemen konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass diese Intervention geeignet ist, Betroffene langfristig von hypoglykämiebedingten Sorgen und Belastungen zu entlasten.
Nach übereinstimmenden Schätzungen mehrerer Untersuchungen sind etwa 25 % aller insulinbehandelten Menschen mit Diabetes vom Problem einer abgeschwächten oder fehlenden Hypoglykämiesymptomatik betroffen, das mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten schwerer Hypoglykämien einhergeht.
Diese Entwicklung beruht nach dem derzeitigen Forschungsstand auf zunehmenden Beeinträchtigungen der körpereigenen Gegenregulationsmechanismen, die sich nach vorliegenden Studiendaten im Mittel nach ca. 5 Jahren manifestieren und durch eine Reihe von Einflussfaktoren (z.B. zurückliegende Hypoglykämien, längere Diabetesdauer) moduliert werden.
In einer Vielzahl von Untersuchungen konnten die pathophysiologischen Mechanismen für die Entstehung von Hypoglykämieproblemen identifiziert werden, die unter dem Begriff des „Hypoglykämie-assoziierten autonomen Versagens (HAAF)“ zusammengefasst werden. Dazu zählen:
• der Verlust oder die Abschwächung der Glukagonsekretion
• die Absenkung der glykämischen Schwellen für die Blutglukoseregulation
• sowie die damit assoziierte Abschwächung der Hypoglykämiesymptomatik
Aktuelle Befunde machen einen zentralnervös vermittelten Adaptationsprozess der glykämischen Schwellen an niedrige Blutglukosewerte für die Entstehung von
Hypoglykämieproblemen verantwortlich. Demnach verstärken fortgesetzt auftretende Hypoglykämien das Absinken der glykämischen Schwellen für die Regulation der Blutglukose und des Auftretens von Hypoglykämiesymptomen, so dass sich ein „Teufelskreis“ aus Hypoglykämien und einer weiteren Downregulation der glykämischen Schwellen entwickelt.
Die Ergebnisse verschiedener Studien konnten zeigen, dass neben physiologischen Prozessen auch psychologische Faktoren die Wahrnehmung von Hypoglykämien determinieren. Als bedeutsame Mediatoren der Hypoglykämiewahrnehmung konnten individuelle Interozeptionsfähigkeiten (z.B. den Grad der Genauigkeit der Wahrnehmung körperinterner Stimuli), der Grad der Konzentration auf Körpervorgänge, das Wissen über das Erscheinungsbild von Hypoglykämiesymptomen sowie Erwartungshaltungen identifiziert werden. Darüber hinaus sind weitere psychologische Faktoren an Entscheidungsprozessen sowie an der Ausführung der Behandlung einer akuten Hypoglykämie beteiligt (z.B. subjektive Risikobewertungen, zurückliegende Behandlungserfahrungen).
Übereinstimmend konnten verschiedene Studien Subgruppen von Typ-1-Diabetikern identifizieren, die in besonderem Maße durch schwere Hypoglykämien gefährdet sind. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass das Hypoglykämierisiko von vielen Menschen mit Typ-1-Diabetes als bedeutsame emotionale Belastung und Beeinträchtigung des Wohlbefindens erlebt wird.
Fragestellungen:
Ziel der vorliegenden Untersuchungen war die Überprüfung von Langzeiteffekten des Schulungs- und Behandlungsprogramms „HyPOS“, das vom Forschungsinstitut der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM) entwickelt wurde. Zielgruppe der Intervention waren Typ-1-Diabetiker mit ausgeprägten Hypoglykämieproblemen. Diese waren definiert als wiederholtes Auftreten schwerer Unterzuckerungen (mit notwendiger Fremdhilfe) und / oder als hohes Ausmaß der emotionalen Belastung durch Unterzuckerungen und / oder als Vorhandensein ausgeprägter Probleme im Umgang mit Hypoglykämien. „HyPOS“ wurde als multimodales Schulungsprogramm konzipiert und basiert auf einem biopsychosozialen Modell der Bewältigung von Hypoglykämien. In den vorliegenden Untersuchungen wurden die Langzeiteffekte von „HyPOS“ im Rahmen einer kontrollierten Studie in der ambulanten fachärztlichen Versorgung (Beobachtungszeitraum: 31 Monate) erhoben. Darüber hinaus wurden die Effekte einer für die stationäre Schulung modifizierten Variante von „HyPOS“, an der Typ-1-Diabetiker mit besonders ausgeprägten Hypoglykämieproblemen teilnahmen, im Rahmen einer unkontrollierten prä-post-Erhebung (Beobachtungszeitraum: 18 Monate) überprüft.
Die vorliegende Arbeit beantwortet vier praxisrelevante Fragestellungen:
(1) Wie lassen sich ambulant behandelte Typ-1-Diabetiker mit Hypoglykämieproblemen bezüglich erkrankungs- und therapiebezogenen Variablen, diabetesbezogener Belastungen und der Befindlichkeit beschreiben?
(2) Welche Langzeiteffekte bezüglich der Inzidenz sehr schwerer Hypoglykämien können beim ambulanten Schulungs- und Behandlungsprogramm „HyPOS“ ermittelt werden?
(3) Mit welchen Variablen lässt sich eine Reduktion sehr schwerer Hypoglykämien im Beobachtungszeitraum prädizieren?
(4) Welche Langzeiteffekte hat ein für die Anwendung im stationären Setting modifiziertes Schulungsprogramm „HyPOS“ bei Patienten mit besonders ausgeprägten Hypoglykämieproblemen bezüglich der Inzidenz schwerer Hypoglykämien, der Qualität der Hypoglykämiewahrnehmung sowie des Ausmaßes diabetesbezogener Belastungen und des Wohlbefindens?
Methodik bei der Evaluation der ambulanten „HyPOS“-Schulung:
Die Evaluation des ambulanten Schulungsprogramms „HyPOS“ erfolgte mit Hilfe von drei Messungen, die in den 23 Studienzentren vor Beginn der Interventions- und Kontrollbedingung (t0), sechs Monate nach Abschluß der Interventionen (t1) sowie 31 Monate nach Beginn der Interventionen (t2) durchgeführt wurden. Insgesamt konnten 140 der 164 randomisierten Teilnehmer zu allen drei Messzeitpunkten untersucht werden.
Zur Eingangserhebung wurden personenbezogene Variablen (Körpergewicht, Körpergröße, Geschlecht, Alter, Schulbildung) sowie metabolische, erkrankungs- und therapiebezogene Charakteristika erhoben (HbA1c, Diabetesdauer, Insulinbedarf, Art der Insulintherapie, Anzahl von Insulininjektionen pro Tag, Verwendung von Analoginsulinen). Darüber hinaus wurde zur Baseline die Anzahl schwerer Hypoglykämien (notwendige Fremdhilfe ohne Bewusstseinsverlust) sowie die Anzahl sehr schwerer Hypoglykämien (mit Bewußtlosigkeit und / oder Krampfanfällen, Glukagongabe oder Glukoseinfusion i.v.) in den zurückliegenden 12 Monaten erfragt. Weiterhin wurden zur Baseline-Erhebung das Ausmaß einer beeinträchtigten Hyoglykämiewahrnehmung mit Hilfe des Hypoglycaemia Awareness Questionaire (HAQ, Clarke et al., 1995) und die Selbstbeurteilung der Güte der Hypoglykämiewahrnehmung mit Hilfe einer visuellen Analogskala (VAS) erfasst. Zusätzlich beurteilten die Teilnehmer vor Beginn der Intervention das Ausmaß diabetesbezogener Belastungen mit Hilfe des PAID-Fragebogens (Problem Areas in Diabetes, Welch et al., 1997) sowie das Wohlbefinden mit Hilfe des WHO-5-Fragebogens (Bech et al., 1996). Jeweils zur 6-Monats-, wie auch zur 31-Monats-Katamnese wurden metabolische sowie therapiebezogene Variablen erhoben. Darüber hinaus wurden zu beiden Katamnesezeitpunkten die Häufigkeit zurückliegender schwerer bzw. sehr schwerer Hypoglykämien, das Ausmaß der Hypoglycaemia unawareness sowie die Selbsteinschätzung der Hypoglykämiewahrnehmung erfasst.
Die Stichprobencharakteristika wurden mit geeigneten Parametern der deskriptiven Statistik beschrieben. Bei der interferenzstatistischen Prüfung der Veränderung sehr schwerer Hypoglykämien sowie der Untersuchung von Veränderungen diabetesbezogener Belastungen und des Wohlbefindens wurden entsprechend der Skalen- und Verteilungsvoraussetzungen t-Tests, nonparametrische Mann-Whitney-U-Tests, der Pearson χ2-Test oder der Mantel-Haenszel-Test angewendet. Zur Ermittlung der Effekte des „HyPOS“-Schulungsprogramms wurde eine multivariate, schrittweise, logistische Regressionsanalyse durchgeführt, bei welcher das Auftreten mindestens einer sehr schweren Hypoglykämie im 31-monatigen Beobachtungszeitraum als Zielkriterium gewählt wurde. In drei Modellen wurden schrittweise die Variablen „HyPOS“ vs Kontrollbedingung“, Baseline-Charakteristika sowie Variablen der Diabetestherapie und Hypoglykämiewahrnehmung zum 6-Monats-Follow-up in das Regressionsmodell aufgenommen.
Methodik bei der Evaluation der stationären „HyPOS“-Schulung:
Die Untersuchung von Langzeiteffekten des stationären Schulungsprogramms „HyPOS“ erfolgte mit Hilfe einer unkontrollierten prä-post-Erhebung mit drei Messzeitpunkten in einem mittleren Beobachtungszeitraum von 18 Monaten: zu Beginn der Intervention (t0), sechs Monate nach Abschluß der Interventionen (t1) sowie im Mittel 18 Monate nach Beginn der Interventionen (t2).
Von den 58 Probanden, die aufgrund besonders ausgeprägter Hypoglykämieprobleme in die stationäre Behandlung in die Diabetes-Klinik Bad Mergentheim überwiesen wurden, konnten 55 Teilnehmer der „HyPOS“-Schulung in die Studie eingeschlossen werden. Die Eingangserhebung wurde in der Fachklinik durchgeführt, die Katamnesedaten beruhen auf Fragebogendaten (Selbstauskünften) der Probanden.
Bei den Teilnehmern wurden jeweils zur Eingangserhebung personenbezogene Variablen (Körpergewicht, Körpergröße, Geschlecht, Alter) sowie metabolische, erkrankungs- und therapiebezogene Charakteristika erhoben (HbA1c, Diabetesdauer, Insulinbedarf, Art der Insulintherapie, Anzahl von Insulininjektionen pro Tag, Verwendung von Analoginsulinen). Darüber hinaus wurde analog zur ambulanten Studie zur Baseline die Anzahl schwerer und sehr schwerer Hypoglykämien in den zurückliegenden 12 Monaten erfragt. Weiterhin wurde zur Baseline-Erhebung das Ausmaß einer beeinträchtigten Hyoglykämiewahrnehmung mit Hilfe des Hypoglycaemia Awareness Questionaire (HAQ, Clarke et al., 1995) bestimmt. Die im HAQ erfragten Merkmale „Blutglukoseschwelle zur Wahrnehmung von Symptomen“ sowie „Zuverlässigkeit der Hypoglykämiewahrnehmung“ wurden zusätzlich jeweils separat analysiert. Analog zur ambulanten Studie beschrieben die Teilnehmer die Güte der Hypoglykämiewahrnehmung mit Hilfe einer visuellen Analogskala (VAS). Zusätzlich beurteilten die Teilnehmer vor Beginn der Intervention das Ausmaß diabetesbezogener Belastungen mit Hilfe des PAID-Fragebogens sowie das Wohlbefinden mit Hilfe des WHO-5-Fragebogens. Jeweils zur 6-Monats-, wie auch zur 18-Monats-Katamnese wurden metabolische sowie therapiebezogene Variablen erhoben. Darüber hinaus wurden zu beiden Katamnesezeitpunkten die Häufigkeit zurückliegender schwerer bzw. sehr schwerer Hypoglykämien, das Ausmaß der Hypoglycaemia Unawareness, die Selbsteinschätzung der Hypoglykämiewahrnehmung, das Ausmaß diabetesbezogener Belastungen sowie das Wohlbefinden erfasst.
Bei der Untersuchung wurde aufgrund der limitierten Stichprobe eine deskriptive Auswertung der Daten vorgenommen. Bei Unterschiedsfragestellungen wurden t-Tests sowie nonparametrische Mann-Whitney-U-Tests verwendet.
Ergebnisse:
Die Teilnehmer der ambulanten „HyPOS“-Langzeitstudie beschrieben zum Zeitpunkt der Eingangsuntersuchung ca. 8-mal soviele schwere und nahezu 4-mal soviele sehr schwere Hypoglykämien im Vergleich zu Teilnehmern der DCCT-Studie (DCCT Research Group, 1997). Bemerkenswert erscheint die kulmulative Inzidenz schwerer Hypoglykämien in einer Subgruppe von Teilnehmern (mehr als 80 % der Episoden bei ca. 29 % der Probanden). Die daraus resultierenden Hypoglykämieprobleme gingen bei ca. 40 % der Probanden mit einem stark erhöhten Ausmaß diabetesbezogener Belastungen und / oder einem stark beeinträchtigten Wohlbefinden einher.
Sowohl im Zeitraum zwischen dem 6-Monats- und dem 31-Monats-Follow-up als auch im gesamten Beobachtungszeitraum von 31 Monaten konnte ein signifikant stärkerer Rückgang sehr schwerer Hypoglykämien im Vergleich zur Kontrollgruppe ermittelt werden. Aufgrund der Vergleichbarkeit der glykämischen Kontrolle sowie therapiebezogener Variablen in der Interventions- und Kontrollgruppe kann die signifikant stärkere Reduktion sehr schwerer hypoglykämischer Ereignisse als Effekt des Schulungsprogramms „HyPOS“ bewertet werden.
Durch die Teilnahme am Schulungsprogramm „HyPOS“ konnte das relative Risiko für das Auftreten mindestens einer schweren Hypoglykämie um 54 % gesenkt werden. Der Interventionseffekt war auch nach Kontrolle von probanden-, therapie- und hypoglykämiebezogenen Eingangscharakteristika nachweisbar. Nach den Ergebnissen der schrittweisen Regressionsanalyse läßt sich die Absenkung des Hypoglykämierisikos möglicherweise auf eine interventionsbedingte Reduktion der Hypoglycaemia unawareness zurückführen.
Die langfristige Effektivität des Schulungsprogramms „HyPOS“ konnte auch bei Patienten mit besonders ausgeprägten Hypoglykämieproblemen im Rahmen eines stationären „HyPOS“-Trainings in mehrfacher Hinsicht belegt werden. Bei den Teilnehmern der stationären „HyPOS“-Schulung konnte im 18-monatigen Beobachtungszeitraum eine signifikante und klinisch bedeutsame Reduktion schwerer bzw. sehr schwerer Hypoglykämien festgestellt werden. Nach 18 Monaten waren die Inzidenzraten schwerer bzw. sehr schwerer Hypoglykämien mit den Ereignisraten der ambulanten Probandenstichprobe zur Eingangsuntersuchung vergleichbar.
Innerhalb des Beobachtungszeitraums konnte eine signifikante Abnahme der Hypoglycaemia unawareness sowie eine signifikante Anhebung der glykämischen Schwellen für die Entdeckung erster Hypoglykämiesymptome ermittelt werden. Entsprechend beschrieben die Probanden der stationären „HyPOS“-Schulung eine gesteigerte Zuverlässigkeit bei der Interozeption von Hypoglykämiesymptomen.
Trotz der vergleichbaren mittleren Blutglukoseeinstellung zu den drei Messzeitpunkten weisen die Daten auf eine physiologischere Insulinsubstitution im poststationären Beobachtungszeitraum hin. Die vermehrte Verwendung von Analoginsulinen sowie der Insulinpumpe könnte neben dem „HyPOS“-Training zur einer Reduktion schwerer Hypoglykämien und zu einer Abschwächung des Hypoglykämie-assoziierten Versagens (HAAF) beigetragen haben.
Sorgen um Hypoglykämien erwiesen sich als die stärkste diabetesbezogene Belastung bei den Teilnehmern der stationären „HyPOS“-Schulung. Im Beobachtungszeitraum von 18 Monaten konnte keine signifikante Reduktion der diabetesbezogenen Gesamtbelastung und des Wohlbefindens festgestellt werden. Bemerkenswert erscheint jedoch die signifikante Abnahme von Sorgen bezüglich Hypoglykämien, - ein Befund, der die spezifische Effektivität und den Nutzen des Schulungsprogramms „HyPOS“ im Hinblick auf die Erhaltung der Lebensqualität unterstreicht.
Schlussfolgerungen:
„HyPOS“ ist das erste Schulungs- und Behandlungsprogramm im deutschsprachigen Raum, das auf eine Verbesserung sowohl physiologischer als auch psychologischer Determinanten von Hypoglykämieproblemen abzielt. „HyPOS“ hat sich sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Versorgung von Typ-1-Diabetikern mit
Hypoglykämieproblemen als langfristig effektive Intervention erwiesen. Die Wirksamkeit der „HyPOS“-Schulung zeigte sich in einer langfristigen und klinisch bedeutsamen Reduktion des Risikos für schwere und sehr schwere Hypoglykämien sowie in einer langfristigen Verbesserung der Hypoglykämiewahrnehmung. Insbesondere bei stationär behandelten Patienten mit besonders ausgeprägten Hypoglykämieproblemen konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass diese Intervention geeignet ist, Betroffene langfristig von hypoglykämiebedingten Sorgen und Belastungen zu entlasten.
GND Keywords: ; ; ;
Diabetes mellitus
Hypoglykämie
Interozeption
Patientenschulung
Keywords: ; ; ;
Hypoglykämie
Interozeption
Typ-1-Diabetes
hypoglycaemia unawareness
DDC Classification:
Type:
Doctoralthesis
Activation date:
July 13, 2015
Permalink
https://fis.uni-bamberg.de/handle/uniba/21142