Wagner, BrittaBrittaWagner2019-09-192010-07-262010https://fis.uni-bamberg.de/handle/uniba/221Dissertation, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 20101. Die Studie beschreibt den Bedeutungswandel im gesellschaftlichen Umgang mit Lebensmitteln über den Zeitraum von 1975 bis 2005 in der Bundesrepublik Deutschland. Das Ergebnis der nichtstandardisierten Inhaltsanalyse von über 1000 Artikeln des Nachrichtenmagazins Der Spiegel hat die Form einer zeitlich ausgedehnten Morphologie, die eine soziologische Zeitdiagnose über den Gegenstandsbereich der Lebensmittel und darüber hinaus erlaubt. Ich betrachte die Sphäre der Lebensmittel als Gefüge von kollektiven Orientierungsmustern und beschreibe die Entwicklungspfade dieser Muster in der neueren Geschichte. So lassen sich Entwicklungen verstehen sowie Widersprüche und kollektive Lösungsansätze nachvollziehen. 2. Die Aufmerksamkeit für Lebensmittel lässt sich durch vier Hauptdimensionen beschreiben. Die physisch-instrumentelle Dimension erfasst den eher naturwissenschaftlichen Zugang zu Lebensmitteln. Lebensmittel werden dahingehend wahrgenommen und beurteilt, inwieweit sie – materiell gesehen – direkten Einfluss auf die Gesundheit und den Alltag haben. Die konsumpolitische Dimension fragt zum einen nach den primären Eigenschaften des Produkts. Hier werden Qualitätsmaßstäbe ausgehandelt. Zum anderen werden dem Produkt Merkmale zugeschrieben, die nichts über die funktionale Qualität aussagen, aber über den Herstellungs- oder Vertriebskontext. Die beiden anderen Dimensionen tragen die Bezeichnung symbolisch-ästhetisch und metaphysisch. Der empirischen Untersuchung wurden aber der besonderen Relevanz wegen nur die ersten beiden Dimensionen unterzogen. 3. Bezüglich der physisch-instrumentellen Dimension zeigen sich folgende Phasen: (1) Entzauberung von einst als harmlos oder sogar gesundheitsfördernd geltenden Lebensmitteln (2) Wachsende Verantwortung des Einzelnen für seine ernährungsbedingte Gesundheit (3) Zunahme des Vertrauens in die Selbstwirksamkeit (Voraussetzung: kollektiv verfügbares Kausalwissen ist auf dem aktuellen Forschungsstand) (4) Infragestellen des Wissens durch Medienberichte und Lebensmittelverunreinigungen führen zu Verunsicherung und Ersatzhandlungen. (5) Schneller Wechsel von wissenschaftlichen Erklärungsversuchen führt zu ganzheitlichen und individualisierten Ansätze in der Ernährungswissenschaft; Einzelner ist auf sich selbst verwiesen. (6) Die anfängliche Aufregung über (vermeintlich) ernährungsinduzierte Krankheiten und Verunreinigung von Lebensmitteln weicht der Gewöhnung an sogenannte Zivilisationsrisiken (auch: BSE, Gentechnik). 4. Bei der konsumpolitischen Dimension lassen sich zwei Perspektiven unterscheiden: das Fingerabdruckdenken und das Fußabdruckdenken. 5. Das Fingerabdruckdenken richtet sich auf die Spuren, die Produktion, Verarbeitung und Vertrieb an diesem Produkt hinterlassen haben. Der Wandel des Fingerabdruckdenkens von 1975 bis 2005 lässt sich durch fünf Entwicklungen beschreiben: (1) Demokratisierung des Fingerabdruckdenkens (2) Verlust des Vertrauens in die Akteure der Lebensmittelsphäre (3) Regulierende Deregulierung (4) Verbraucher werden mündiger; erhalten mehr Eigenverantwortung (rechtlich und wirtschaftlich) (5) Verbraucher erhalten mehr Macht und Mitgestaltung; Anbietermärkte werden zu Nachfragermärkten (Massenproduktion, Globalisierung, Deregulierung) 6. Beim Fußabdruckdenken geht es um die Spuren, die der Konsum eines Produkts in der Welt im weitesten Sinne hinterlässt. Zu erkennen sind zwei Entwicklungen: (1) Politisierung der Mikroökonomie (2) Mikroökonomisierung politischer Konflikte 7. Einzelne Episoden des Fußabdruckdenkens laufen in vier Phasen ab. (1) Zugängliches Wissen in der Öffentlichkeit wird ignoriert oder tatenlos zur Kenntnis genommen (2) Aufgeregtheit und Aktionismus (3) Verteilung gesellschaftlicher Rollen unter Interessensvertretern, Experten kümmern sich um Eindämmen der Nachteile (4) Als wäre die so vorgenommene Systematisierung und Institutionalisierung des Phänomens schon die vorweggenommene Lösung, glätten sich die Wogen und es kehrt in der vierten Phase beruhigende Routine ein. Der Gesamtprozess ist beherrscht von einer Art Urvertrauen in die an sich erfolgreiche Moderne, die die Folgen ihres Tuns auch noch in den Griff bekommen werde (Bsp.: Ökolandwirtschaft, Gentechnik, Welternährung) 8. Für die physisch-instrumentelle und die konsumpolitisch Dimensionen zeigt sich, dass die genannten Prozesse (1) zu einer wachsenden Food Awareness führen. (2) Außerdem kommt es zu einem Verlust von Eindeutigkeit und Objektivität (Folge: Bedeutungsgewinn des Subjektiven) (3) Gleichzeitig entsteht ein neuer Technikoptimismus. 9. Zwei Begriffe bringen mit all dem verbundene Modernisierungsprozesse auf den Punkt: Genuss und Reue. Genuss steht für die Frage nach dem subjektiv empfundenen Glück, Reue thematisiert objektive Missstände. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums ist die Auffassung entstanden, dass Modernisierungsgewinne zwangsläufig mit Modernisierungskosten einhergingen oder – in den hier eingeführten Begriffen – der Genuss zwangsläufig zu bereuen sei. Doch statt im Sinne der Abhandlungen zu den „Grenzen des Wachstums“ Entwicklungen zu bremsen oder zurückzunehmen, geschah eine kulturelle Verschiebung bezogen auf Genuss und Reue. Es gilt nicht mehr (zähneknirschend): je größer der Genuss, desto größer die Reue, sondern (motivierend): je geringer die Reue, desto größer der Genuss. Nach einer „Zeigefinger-Episode“, die eine konsumkritische soziale Bewegung hervorbrachte und institutionell auf Regulierung und Kontrolle setzte, hat sich eine neue Form gesellschaftlicher Projekte entwickelt. Sie respektieren und bejahen die technischen Möglichkeiten und die neue Subjektivität der Qualitätsurteile, in der Genuss eine wesentliche Rolle spielt, nutzen sie aber dazu, objektive Gegebenheiten zu verändern.1. The present analysis describes the changes in the way food was dealt with in German society during the period of 1975 to 2005. The results of the non-standardised content analysis of more than 1,000 articles from the news magazine Der Spiegel are presented in the form of a temporally stretched morphology that allows a sociological diagnosis concerning the topical field of food and beyond. I am regarding the sphere of food as a structure of collective patterns of orientation and I am describing the pathways of the development of those patterns in recent history. Thus, developments can be understood; inconsistencies and collective approaches can be comprehended. 2. The attention to food can be described along four main dimensions. The physical-instrumental dimension covers the more scientific approach to food. Food is perceived and evaluated in terms of its direct physical influence on health and everyday-life. The consumption-political dimension considers on the one hand the primary qualities of a product - quality standards are negotiated in that context. On the other hand, the product is attributed with characteristics that do not reveal anything about the functional quality but about the context of production and distribution. The other two dimensions are termed symbolic-aesthetic and metaphysical. Due to their special relevance, only the first two dimensions were examined within the empirical analysis. 3. Within the physical-instrumental dimension the following stages can be observed: (1) Demystification of food that used to be regarded as harmless or even conducive to good health (2) Growing responsibility of the individual for one’s diet-related health condition (3) Increasing confidence in the self-efficacy (with the precondition that collectively available causal knowledge corresponds to the current state of research) (4) The questioning of the knowledge through media reports and food contamination lead to uncertainty and acts of compensation. (5) The fast change of scientific explanatory approaches leads to holistic and individualised approaches in nutrition sciences. Individuals are redirected to themselves. (6) The initial anxiety about assumed diet-induced diseases and contaminations of food gives way to a stage of familiarisation with so-called diseases of civilisation (also BSE, genetic engineering). 4. Within the consumption-political dimension, two perspectives can be differentiated –fingerprint and footprint thinking. 5. Fingerprint thinking refers to the marks that production, conversion and distribution leave on a product. Changes in fingerprint thinking from 1975 to 2005 can be described through five developments: (1) Democratisation of fingerprint thinking (2) Loss of confidence in the actors of the food sphere (3) Regulating deregulation (4) Consumers become mature and receive more personal responsibility (legally and economically). (5) Consumers receive more power and the possibility of active participation; sellers’ markets become buyers’ markets (mass production, globalisation, deregulation). 6. Footprint thinking focuses on marks that the consumption of a product leaves in the world in the broadest sense. Two developments can be observed: (1) Politicisation of micro economics (2) Micro economisation of political conflicts 7. Individual episodes of footprint thinking proceed in four stages. (1) Publicly available knowledge is ignored or noticed without any reaction. (2) Discomposure and aimless actions (3) Distribution of social roles among claims makers, experts take care of containing the disadvantages. (4) As if the systematisation and institutionalisation of the phenomenon that were thus achieved were already the anticipated solution, the waters are smoothed and calming routine takes over in the fourth stage. The whole process is dominated by a basic sense of trust in modernity that is assumed to be successful as such and capable of getting the consequences of its acting under control (e.g. organic farming, genetic engineering, world food). 8. Regarding the physical-instrumental and the consumption-political dimension, the mentioned processes (1) Lead to an increasing food awareness. (2) In addition to that, there is a loss of unambiguousness and objectivity (with the consequence that the importance of the subjective is growing). (3) At the same time a new technological optimism arises. 9. Two terms describe the modernisation processes associated with the before described development: pleasure and regret. Pleasure refers to the question of subjectively perceived happiness. Regret refers to objective deficiencies. At the beginning of the period of study, an emerging attitude stated that modernisation benefits necessarily come along with modernisation costs or – in the terms just introduced before – that pleasure needs to be regretted necessarily. However, in spite of decreasing development according to papers on the “limits of growth”, a cultural shift regarding pleasure and regret took place. It’s not anymore (grudgingly): the bigger the pleasure, the bigger the regrets; but (in a motivating sense): the less the regret, the bigger the pleasure. After a “schoolmaster episode”, which brought about a social movement criticising consumption and institutionally advocated regulation and monitoring, a new form of social projects developed. They respect and approve the technological possibilities and the new subjectivity of the quality valuations, in which pleasure plays an important role, but use them to change objective facts and conditionsdeuLohas, Buykott, Entwicklungspfade, Ernährungssoziologie, Steigerungsspiel, Soziale Bewegung, Vegetarische Kost, Gesunde Ernährung, Ernährungserziehungsociology of food , patterns of orientation , consumerism , political consumption , healthLohasBuykottEntwicklungspfadeErnährungssoziologieSteigerungsspielSoziale BewegungVegetarische KostGesunde ErnährungErnährungserziehungsociology of foodpatterns of orientationconsumerismpolitical consumptionhealth300Die Aufmerksamkeit für Lebensmittel : eine zeitgeschichtliche Rekonstruktion kollektiver Orientierungsmuster (1975-2005)The Attention to Food. A reconstruction of collective patterns of orientation in recent history (1975-2005)doctoralthesisurn:nbn:de:bvb:473-opus-2519