Rolker, ChristofChristofRolker0000-0003-2524-88142021-08-062021-08-062018978-3-16-155659-3https://fis.uni-bamberg.de/handle/uniba/50311Die Zusammenfassung von mindestens sechs Jahrhunderten der westlichen Kirchenrechtsgeschichte als „vorgratianisch“ spiegelt die Bedeutung der um 1140 kompilierten Rechtssammlung Gratians. Mit der raschen Rezeption des Decretum Gratiani in Universitäten, Gerichten, Verwaltungen war nicht nur erstmals ein in ganz Lateineuropa und grundsätzlich bis 1917 verwendetes Corpus der kirchlichen Rechtstexte geschaffen worden. Seine seine Kommentare wurden ebenso wie die enthaltenen Rechtstexte jahrhundertelang immer neu ausgelegt und selbst kommentiert, seine Struktur prägte alle juristisch informierten Diskurse, und es war Anknüpfungspunkt weiteren Rechtsfortbildung. Mit einigem Recht ist das Decretum Gratiani daher immer wieder als ein Meilenstein der europäischen Rechtseinheit gefeiert worden. Die vorgratianische Zeit hingegen gilt auch in freundlicheren Darstellungen als „Zeitalter ohne Juristen“ (Bellomo). Je mehr Rechtsgeschichte als Modernisierungsgeschichte geschrieben wird, desto stärker die Versuchung, diese Jahrhunderte entweder zu ignorieren oder nur insoweit zur Kenntnis zu nehmen, wie sie sich in teleologische Narrative einfügen lassen. Der erste, titelgebende Teil meines Vortrags nimmt diese Stellung der „vorgratianischen“ Rechtsgeschichte in den Selbstdeutungen der westlichen Moderne auf. Dabei soll die große Diversität der kirchlichen Rechtstexte in ihrer Widersprüchlichkeit und der daraus resultierenden Ambiguität der Einzelnormen untersucht werden. Wenn die neue universitäre Rechtswissenschaft auch nur annähernd so modern war, wie es ihr üblicherweise zugesprochen wird, und wenn man den Verlust von Ambiguitätstoleranz zu den Kosten der Moderne rechnet, dann ist im vormodernen Recht allgemein, im besonderen aber für die Zeit vor Entstehung der Universitäten mit einem anderen, grundsätzlich positiven Umgang mit Ambiguität zu rechnen. Für das vorgratianische Kirchenrecht erfasst man damit in der Tat einen wichtigen Aspekt des Umgangs mit Autoritäten, der in weit verbreiteten teleologischen Narrativen gerade nicht berücksichtigt wird. Als zweiter Punkt soll die Vielfalt nicht nur der einzelnen Rechtsnormen, sondern der Rechtssammlungen dieser Zeit beleuchtet werden. Auch wenn sie kaum kommentierende Elemente enthalten, sind diese Sammlungen schon seit langem als Ausdruck partikularer Interessen untersucht worden, wobei sich die Forschung ganz überwiegend auf die Konfliktlinie zwischen Papsttum und Episkopat, Zentrale und Peripherie, (päpstlichen) Reformern und ihren Gegnern konzentriert hat. Auch wo nicht der Konflikt beider betont wurde, waren es immer wieder Päpste und Bischöfe, nach denen gefragt wurde. Dieser Ansatz lässt sich sozialhistorisch erheblich ausbauen, wenn man vorgratianische Sammlungen grundsätzlich als Ausdruck nicht nur der Interessen, sondern auch allgemeiner der Werte, Denkweisen, inneren Organisation verschiedener sozialer Gruppen innerhalb der Kirche untersucht. Es waren nämlich keineswegs nur Bischöfe und Päpste, die „ihre“ Sammlungen anlegen (ließen), sondern auch Mönche, Metropoliten, Regularkanoniker und Kardinäle. Die Pluralität der Rechtssammlungen, die meist negativ beschrieben wird („fehlende“ Kodifizierung, „kein Corpus“ der Rechtsquellen) wird damit zu einer eigenen Quelle sowohl für die Rechtskultur des früheren Mittelalters wie der allgemeinen Geschichte. Diese doppelte Diversität der Normen wie der Sammlungen erreichte in den ca. 100 Jahren vor der Entstehung des Decretum Gratiani einen Höhepunkt. Dieser Befund steht in einem spannungsreichen Verhältnis zu dessen Etablierung als mittelfristig beinahe einziger Rechtssammlung. Die hinsichtlich der enthaltenen Normen, des Entstehungszusammenhangs und der von ihnen bedienten Interessen so vielfältigen vorgratianischen Sammlungen waren eben auch Teil einer Neuverhandlung dessen, was im Kirchenrecht als „authentisch“ gelten durfte. Auf diese durchaus mittelbare Weise trugen die dezentral entstandenen und teilweise deutlich von Partikularinteressen geprägten Sammlungen zu den Bedingungen der Möglichkeit eines zentralen Textcorpus bei, das gerade nicht mehr in gleicher Weise ergänzt werden konnte. Ohne die Bedeutung des Decretum Gratiani zu leugnen, soll mit diesen Überlegungen zur Diversität der Einzelnormen und der Sammlungen in vorgratianischer Zeit deutlich gemacht werden, dass die Etablierung des Decretum Gratiani als Basistext eben nicht nur der Beginn neuer, sondern auch das Ende anderer Praktiken des Umgangs mit normativen Texten war, die über Jahrhunderte einen wichtigen Teil der westlichen RechtskulturdeuCanon law940Eine Kultur der Ambiguität im Kirchenrecht? Kanonessammlungen des 10. bis 12. Jahrhundertsbookpart10.1628/978-3-16-156201-3