Stahlmann, JörgJörgStahlmann2020-07-152020-07-152020978-3-86309-721-9978-3-86309-722-6https://fis.uni-bamberg.de/handle/uniba/47324Dissertation, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 2015Forschungsinteresse Ziel der Arbeit ist es, ein präziseres Verständnis für die Bruchlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden, wie sie in der mittelalterlichen Literatur dargestellt werden, zu entwickeln. Dies kann zu besseren Rückschlüssen auf das Verständnis von Identität, sowohl innerhalb einer Gruppe als auch des Individuums, beitragen. Grundlagen Der Ansatz zur Beschreibung unterschiedlicher Formen der Auseinandersetzung mit dem Fremden wird von Ortfried Schäffter übernommen, der vier Arten definiert, in der das Fremde aufgefasst werden kann: Fremdheit als „tragender Grund und Resonanzboden von Eigenheit“, als ursprüglicher Zustand, der durch die Identitätsentwicklung überwunden wurde (innerhalb einer „Ordnung transzendenter Ganzheit“) – gewissermaßen „was ich früher war.“ Fremdheit als Negation von Eigenheit, als zur Definierung der Identität ausgegrenzter Bereich (innerhalb einer „Ordnung perfekter Vollkommenheit“) – „was ich notwendig nicht bin“ Fremdheit als Chance zur Vervollständigung einer entwicklungsfähigen Identität (innerhalb eines „Ordnungskonzeptes dynamischer Selbstveränderung“) – „was ich gerne sein möchte.“ Eigenheit und Fremdheit als Zusammenspiel sich wechselseitig hervorrufender Kontrastierungen (im Rahmen einer „Konzeption komplementärer Ordnung“) – „was ich auch sein kann“ Zusammenhänge, in denen Fremdbegegnungen auftreten (oder vielleicht auftreten sollten) sollen mithilfe dieser Taxonomie von zunehmend komplexeren Konzeptionen von Fremdheit zu einer Art „Profil“ zusammengestellt werden, das zeigen kann, welche Vorstellungsmöglichkeiten für den untersuchten Textkorpus möglich sind. Reizvoll an der Auseinandersetzung mit Literatur ist in diesem Zusammenhang, im Gegensatz oder komplementär zu historiographischen Quellen, ihre Natur als vom Menschen konstruierte Welt, die begrenzte Ausschnitte seines Denkens abbildet. Sie gehorcht bestimmten Anforderungen, etwa in der Handlungsfolge und den Regeln der Erzählform, bietet aber viel Spielraum für unterschiedliche Ausgestaltung. Grundlage für die Untersuchung sind daher unterschiedliche Bearbeitungen des Tristan-Stoffes. Die Werke in Auswahl liegen in ihrem Entstehungszeitraum recht eng beieinander: nach 1155 für den Tristan des Thomas d’Angleterre, ca. 1170 für den Tristrant des Eilhart von Oberg, das letzte Drittel des 12. Jahrhunderts für das Fragment des Berol, etwa 1220 für den Tristan Gottfrieds von Straßburg, 1226 für die Tristramssaga des Bruder Robert, und vor 1235 für die Fortsetzung Ulrichs von Türheim. Nur die Fortsetzung Heinrichs von Freiberg bleibt mit einem Entstehungsdatum von 1285-1290 davon abgesetzt, muss sich aber doch auch mit den Vorgaben des Werks von Gottfried auseinandersetzen. Bei weitgehender Übereinstimmung des Handlungsgerüsts sind hier auch verschiedene literarische Kulturen vertreten: altfranzösische bzw. anglonormannische, mittelhochdeutsche und altnordische Erzähltraditionen vervielfältigen die Perspektive. Vorgehen In der Arbeit werden nacheinander Bereiche, in denen Fremdbegegnungen auftreten (oder auftreten könnten), untersucht, jeweils nacheinander anhand der oben aufgeführten Textgrundlagen. Dies sind im Einzelnen: Körperliche Merkmale, Sprache, Raum, Gesellschaft und Kultur. Ergebnisse werden zweimal „profiliert“: Einmal im Zusammenhang der einzelnen Bereiche und ein weiteres mal im Zusammenhang der der einzelnen Werke. Ergebnisse Körperliche Merkmale: Untersucht werden Riesen, Zwerge und körperliche Entstellung durch z.B. Krankheit. Riesen sind, sofern sie explizit als solche bezeichnet werden, zunächst nicht archaische Vorform, sondern Gegenspieler der höfischen Menschheit. In der Bildergrottenepisode der Saga macht sich Tristram diesen Teil der Riesenwelt zu eigen als eine Art „Waldlebenersatz“, als seine persönliche Sphäre außerhalb der Gesellschaft. Zwerge sind selbstverständlicher Teil der Hofgesellschaft; auf der Ebene der Erzählung lösen sie in keiner der Versionen Befremden durch ihre Gestalt aus, allenfalls durch ihre nicht immer geheure Kunstfertigkeit und List. Krankheit führt, wie Körpergestalt generell, zu einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle; mehrfach wird jedoch auch die Verfremdung des Gesichts thematisiert. Der Kranke ist ein defizitärer Teil der Gesellschaft; problematisch dann, wenn er durch Gestank nicht einmal diese Rolle einnehmen kann. Sprache: Wiewohl Tristan in vielen Bearbeitungen Grenzen überschreitet, kommen nur in den wenigsten Sprachbarrieren vor. Nur bei Gottfried von Straßburg wird von einer Vielzahl von Sprachen ausgegangen, die zuerst Tristans Sondernatur demonstriert, da er aller Sprachen mächtig ist, und ihn später bei der Irlantfahrt allein handlungsfähig macht. Für alle außer Tristan ist ein anderssprachiger Raum daher ein Stück weit Negation des Eigenen; er allein ist in der Lage, sich durch Sprache auch diesen Raum anzueignen. In mehreren Bearbeitungen thematisiert wird die Mehrdeutigkeit von Sprache, die es den Liebenden ermöglicht, zu kommunizieren und dabei an ihre Umgebung eine andere Botschaft auszusenden. Dabei variiert die Zahl der Personen, die in der Lage sind, diese „Barriere“ zu überschreiten b zw. diese Form von Verfremdung zu decodieren und verrät damit auch viel über die jeweilige Auffassung von der Liebesbeziehung. Raum: Wie auch bei den Sprachen ist hier nicht von einem Abbildungscharakter auszugehen; die dargestellten Räume dienen der Erzählung und fallen entsprechend schematisch aus: Stadt und Hof als Ort der Gesellschaft, Wildnis als Negation dieses Raums, den Tristan zu seinem eigenen machen kann. Meere und Gebirge dienen als absolute Grenzen, die einen Bruch in der Kontinuität der Identität herstellen oder erlauben können – aber nicht in jeder Bearbeitung. Gesellschaft: Die gesellschaftliche Position ist beherrschender Faktor, wenn es um die Identität der Figuren in den Tristan-Texten geht. Alle Konflikte drehen sich um die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit, um Zugang oder Ausschluss von gesellschaftlichen Gruppen und Schichten. Je starrer diese Gruppen strukturiert sind, desto stärker sind die Grenzen zwischen einzelnen Schichten und desto leichter sind diese willkürlichen Grenzen zu manipulieren. Tristan ist es, der durch seine „außergesellschaftliche“ Liebe zu Isolde einen anderen Bezugspunkt für seine Identität hat und für den die gesellschaftlichen Erwartungen an Rollen (auch) zum Material werden, mit dem er seinem Ziel, der Zusammenkunft mit der Geliebten, näher kommen kann. Dabei bleiben diese Identitätskonstrukte – durch Gesellschaft und durch Liebe – jedoch gegenseitig ausschließlich; allenfalls dringen gesellschaftliche Aspekte in die Sphäre der Liebenden ein, etwa im Sinne des Dienst-Lohn-Konzepts. Kulturelle Differenz: Sie wird hier wenig thematisiert; ausländische Ware ist prinzipiell von hohem Ansehen, fremde Sitten werden prinzipiell geachtet, wenn sie von dem Hinweis begleitet werden, sie seien höfisch. Insofern lässt sich beobachten, dass auch Kultur hier „hergestellt“ wird und nicht per se als Faktum angenommen wird.General aims The aim of this study is to develop a clearer insight into the lines that divide otherness and sameness as they are displayed in medieval literature. This will contribute to a greater understanding of the construction of identity, among individuals as well as groups. Basics The starting point is taken from Ortfried Schäffter’s four different concepts of otherness: Otherness as a foundation for sameness within an “order of transcendent wholeness” – “the other is that which I once was.” Otherness as the negation of sameness within an “order of perfection” – “the other is that which I by necessity am not.” Otherness as the chance of self-enhancement within an “order of dynamic self-transformation” – “the other is that which I would like to be.” Otherness and sameness as an interplay within a “concept of complementary order” – “the other is that which I can also be.” This taxonomy of increasingly complex conceptions of otherness allows the creation of a profile for the range of texts under scrutiny: which combination of otherness is imaginable for each text, and in which narrative context? The decisive feature of literary texts, as opposed to historiography, is its constructed nature. Literary texts show a world as a secondary, human creation and illustrate certain more or less limited ways of thinking. They follow a set of requirements in plot and narrative structure, but allow for different ways of expression. The medieval texts around Tristan form the body on which this study puts its focus. The chosen versions are close to each other in their time of origin: post-1155 for the Tristan of Thomas d’Angleterre, c. 1170 of the Tristrant of Eilhart von Oberg, the late 12th century for the fragments of Béroul, c. 1220 for the Tristan of Gottfried von Strassburg, 1226 of the Tristramssaga of Brother Robert and 1235 for the continuation of Ulrich von Türheim. Written 1285-1290, the continuation of Heinrich von Freiberg is somewhat removed from that timeframe, but has to develop the ideas set out in Gottfried’s opus. While the basic structure of the plot is much the same for these versions, they represent at the same time a variety of cultures in Old French/Anglo-Norman, Middle High German and Old Norse literary tradition. Procedure The study takes a look at certain categories where otherness becomes (or might become) manifest: the body, language, space, society and culture in general. Two kinds of profiles are developed: one for each of these categories, one for each of the texts under scrutiny. Results Bodily features: Giants, dwarfs and bodily disfigurement by illness are of interest here. Giants, if indeed regarded as such, are mostly not archaic precursors but antagonists of the courtly (human) society. In the Saga Tristram makes a part of the giant world his own in the episode of the cave of the statues. It becomes his personal sphere of living, apart from mainstream society, in a parallel to the forest life episodes in the other versions. Dwarfs are a part of courtly society; within the narrations they never trigger reactions of otherness through their body type, only perhaps through their remarkable artistry and cunning. Illness leads persons to certain preconceived roles in society, deficient, but still integrated – unless the smell makes interaction unbearable and makes a person ‘antisocial.’ The change of facial features alone helps to willingly create otherness. Language: Tristan crosses all manner of borders in a variety of versions of the story, but only some of them make use of language barriers. Only Gottfried suggests a plethora of languages that help to illustrate Tristans exceptionality, since he is able to communicate in all of them and can handle the tricky situation at the court of Isolt‘s father. To all the others, places where a different language is spoken are a negation of their identity. Tristan alone has the ability to find integration in those spaces. Several versions make use of the ambiguity of meaning which allows the lovers to communicate while sending a different message to the society around them. The number of people with the ability to transcend this barrier and decode this form of ‘alteration‘ varies between the versions, which also reveals the corresponding concept of the lovers‘ relationship. Space: Same as with languages, space can‘t be seen as a depiction of reality. The places serve the narration, and thus they are rather schematic in character: town and court as spaces of society, wilderness as the negation of those spaces which Tristan can make his own. The sea and mountains make up absolute barriers that allow a break in the continuity of identity (which is not used in every version, though). Society: Social position is the determining factor of identity in the Tristan texts. Every conflict starts with participation or non-participation, with admission to or exclusion from a certain social group or strata. If the structure of a group is less flexible and the barriers between the strata more pronounced, it can be manipulated more easily. With his love for Isolt, Tristan has an extra-social point of reference. For him the expectations which society holds for various roles become a subject matter (among others) which he can use to be together with his loved one. Constructions of identity through society and through love widely remain mutually exclusive. Social aspects enter into the lovers‘ sphere, though, in the Minnesang-idea of a concept of service and reward Cultural otherness: There is less of that phenomenon. Goods from foreign countries are held in high regard, strange customs are honoured if they come with the epithet ’courtly’; it becomes evident that here culture is a literary construction and not taken as a given outside fact.deuMittelalterLiteraturTristanFremdheitGottfried von StrassburgThomas d'AngleterreTristramssagaEilhart von ObergBeroulUlrich von TürheimHeinrich von FreibergAnthropologie830vremeder lande site' : Konstruktionen von Fremdheit in den mittelalterlichen Bearbeitungen des Tristan-Stoffesdoctoralthesisurn:nbn:de:bvb:473-irb-473247